Absolventenportrait: Mittweida versprach viel Praxiserfahrung – und hat das auch gehalten
Zu ihrem Studium kam Susann Reichert 2004 halb durch Zufall, halb aus Neugier: „Wie viele andere konnte ich mich nach dem Abitur nicht entscheiden, was ich studieren will: Ich hatte ein Zeitungspraktikum gemacht und toll gefunden, aber genauso gut konnte ich mir vorstellen, als Bioinformatiker DNA am Computer auseinander zu nehmen. Auf jeden Fall wollte ich lieber an eine Fachhochschule als an die Uni. ‚Learning by doing‘ war und ist mir wichtiger als trockene Theorie. Mittweida versprach viel Praxiserfahrung – und hat das auch gehalten. Ob das Lokalradio ‚99drei Radio Mittweida‘, die Zeitung ‚Novum‘ oder das Fernsehstudio und die Mediennacht – der Praxisanteil war perfekt. Ich habe außerdem in drei Jahren Studium vier Praktika gemacht und dabei mehr gelernt als in sämtlichen Theorieveranstaltungen zusammen.“
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
„Vom Studium zum Zeitungsvolontariat ging es dann schnell. Andere schuften jahrelang als freie Mitarbeiter, bevor sie mit der Redakteursausbildung beginnen dürfen. Bei mir waren es vier Monate. Das lag zum Teil daran, dass ich schon Erfahrung hatte, zum Teil war es Glück: Eigentlich hatte ich mich bei der ‚Hannoverschen Allgemeinen Zeitung‘ beworben, aber im Vorstellungsgespräch stellte sich heraus, dass die kleinere Tochtergesellschaft, die die Lokalzeitungen im Umland macht, gerade Nachwuchs suchte. Also habe ich bei den Madsack Heimatzeitungen angefangen. Ich war quasi zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“
Für die Festanstellung nach dem Volontariat brauchte es noch einmal etwas Glück: „Mein Volontariat ging Anfang 2010 mitten in der Wirtschaftskrise zu Ende. Die Verlage bauten gerade massiv Stellen ab, und ich wollte mich schon als freie Journalistin selbstständig machen. Der Businessplan war geschrieben, der Gründerzuschuss beantragt. Drei, vier Tage bevor es ernst wurde, gab mir mein Volontariats-Chef die Telefonnummer des Chefredakteurs der Peiner Allgemeinen Zeitung. Der suchte gerade einen Redakteur und hatte die Stelle nicht einmal ausgeschrieben, sondern anscheinend bei Kollegen herumgefragt. Am nächsten Morgen saß ich jedenfalls zum Bewerbungsgespräch in seinem Büro, und am folgenden Montag fing ich an zu arbeiten – nicht freiberuflich, sondern mit einem befristeten Vertrag in der Tasche. Ein Glücksgriff damals, planen kann man so etwas nicht!“
Jeden Tag im Berliner Format
Ein typischer Arbeitstag beginnt für Susann Reichert morgens um 9:30 Uhr: „Im Büro rufe ich E-Mails ab, kurz darauf besprechen wir in der Morgenkonferenz, welche Termine anstehen. So beginnt fast jeder Tag. Ich bin bei unserer kleinen Lokalzeitung für eine Gemeinde mit gut 9000 Einwohnern verantwortlich und berichte über alles, was dort passiert: Etwa wenn ein Kindergarten eröffnet wird, wenn die Sanierung des maroden Kirchturms länger dauert, als geplant, oder wenn Lokalpolitiker über die Hundesteuererhöhung streiten. Jeden Tag fülle ich mit solchen Nachrichten eine Zeitungsseite im ‚Berliner Format‘, also etwas größer als A3. In der Regel ist dort Platz für drei größere Artikel und einige Meldungen am Rand. Nicht alles muss ich selbst schreiben. Ich kann auch freie Mitarbeiter beauftragen oder bekomme ungefragt Artikel per Mail, etwa über den Ausflug vom Kegelclub oder die Feier zum zehnjährigen Bestehen einer Dachdeckerfirma. Solche Beiträge schreiben die Pressewarte der Vereine oder die Firmenchefs als Eigenwerbung, und das meiste wird auch abgedruckt, allerdings kürze ich viel und formuliere um.“
„Heute steht etwas Besonderes an: Der niedersächsische Umweltminister besucht ein Kohlekraftwerk in ‚meiner‘ Gemeinde, es wird über die Energiewende gesprochen, anschließend nimmt sich der Minister sogar noch zehn Minuten Zeit für ein Interview. Dreieinhalb Stunden habe ich Zeit, um den Artikel und das Interview zu Papier zu bringen, Fotos auszusuchen, die unsere Fotografin gemacht hat, und die Seite zu ‚bauen‘ – ich bin auch für das Layout selbst verantwortlich. Der Ministerbesuch füllt nicht die gesamte Seite, also schreibe ich auch ein paar Meldungen, kündige ein Konzert an und einen Vortrag der Landfrauen. Dann ist die Seite endlich fertig und ich muss zum nächsten Termin: Im Ortsrat wird über ein neues Baugebiet gesprochen.“
Ein Job für Überzeugungstäter
Auf die Frage, wem sie einen Job in ihrer Branche empfehlen würde, scherzt Susann Reichert: „Workaholics ohne Freunde und Hobbys. Nein, Spaß beiseite. Aber wer Journalist werden will, muss schon Überzeugungstäter sein und darf keinen Nine-to-five-Job erwarten. Freie Journalisten verdienen in der Regel wenig – gerade bei Lokalzeitungen – und müssen oft kurzfristig einspringen und am Wochenende arbeiten. Auch feste Stellen sind mit vielen unbezahlten Überstunden und Abendterminen verbunden. Aber das ist auch in anderen Berufen so: Anwälten, Ärzten oder Ingenieuren geht es oft nicht anders.“
„Das Tolle an meinem Job ist: Kein Tag ist wie der andere. Ich bestimme zum großen Teil selbst, worüber ich schreibe und was. Außerdem ist die Arbeit sehr abwechslungsreich, da ich nicht nur für die Texte verantwortlich bin, sondern auch für das Layout ‚meiner‘ Zeitungsseite. Oft mache ich auch die Fotos selbst. Als Journalist sollte man unbedingt sorgfältig arbeiten, Stress aushalten und spontan reagieren können: Der Großbrand kurz vor Feierabend ist zwar selten, kommt aber durchaus vor.“
Ihr Privatleben hat sich seit dem Studium extrem verändert: „Ich habe zwar auch im Studium viel gearbeitet – Lokalradio, freie Mitarbeit für Zeitungen, Nebenjobs – aber es blieb immer Zeit zum Feiern. Außerdem waren die Grenzen zwischen ‚Arbeit‘ und ‚Freizeit‘ fließend, das ist heute auch nicht mehr so. Ich stehe fast jeden Tag zur gleichen Zeit auf, arbeite im Schnitt zehn Stunden, dann ist Feierabend. So viel Routine hätte ich mir im Studium nicht vorstellen können. Zum Glück geht das meinen Freunden, die andere Jobs haben, auch so. Im Studium war es außerdem mein Traum, in der Politik-Redaktion einer großen Zeitung zu arbeiten, am liebsten in Berlin. Vielleicht kommt das noch – aber im Moment bin ich mit meiner kleinen Lokalzeitung sehr zufrieden.“
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